D. Tosato-Rigo: La chronique de Jodocus Jost

Titel
La chronique de Jodocus Jost. Miroir du monde d’un paysan bernois du XVIIe siècle


Autor(en)
Tosato-Rigo, Danièle
Reihe
Mémoires et documents publiés par La Société d’histoire de la Suisse romande, 4ème Série, vol. X
Erschienen
Lausanne 2009: Société d’histoire de la Suisse romande
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
de Capitani François

Der meist als Jost von Brechtershäusern bekannte, wohlhabende Emmentaler Bauer Jodocus Jost (1589? – 1657) schrieb in seinen letzten Lebensjahren eine Chronik der grossen und kleinen Ereignisse, die sein Leben prägten. Seit dem 19. Jahrhundert haben sich die Historiker immer wieder dieser Quelle bedient, handelt es sich doch um den sehr seltenen Fall, dass eine Chronik nicht von einem Mitglied der traditionellen Bildungsschichten geschrieben wurde. Allerdings hat diese Chronik bisher kaum eine kritische Würdigung erhalten. Sie diente vor allem als Steinbruch für «authentische» Zitate über den Bauernkrieg, man begrüsste oder bedauerte Josts letzten Endes ablehnende Haltung gegenüber dem Aufstand der Landschaft. In ihrer Lausanner Dissertation hat Danièle Tosato-Rigo sich die Aufgabe gestellt, die Chronik neu zu edieren, sie in den Kontext der bäuerlichen Lebenswelt zu stellen und das Werk als Ganzes zu würdigen.

Bereits die Überlieferung ist alles andere als einfach. Wir stützen uns heute auf zwei miteinander eng verbundenen Abschriften des 19. Jahrhunderts, nicht etwa des Originals, sondern einer – verschollenen – Kopie aus dem Jahre 1725. Der genaue Aufbau der Chronik kann daher nicht bis ins Letzte rekonstruiert werden und viele Ungereimtheiten im Aufbau der Chronik bleiben deshalb nicht interpretierbar.

In einem vorzüglichen Überblick stellt die Autorin vorerst die bäuerliche Lebenswelt im Emmental in der Zeit des Dreissigjährigen Krieges vor. Hochkonjunktur und Krise haben diese Jahre geprägt und sind als tief pessimistische Grunderfahrung in die Chronik mit eingeflossen.

Neben lokalen Begebenheiten stehen drei grosse Ereignisse im Zentrum der Chronik: der Dreissigjährige Krieg, der Bauernkrieg und schliesslich der (1.) Villmerger Krieg. Die sorgfältige Analyse zeigt, dass es sich nicht um eine willkürliche Aneinanderreihung von Ereignissen handelt, sondern dass hinter der Chronik der Wille zu einer klaren Deutung der vom Verfasser miterlebten Geschichte steht. Diese Deutung wurzelt im religiösen, sozialen und politischen Selbstverständnis des Verfassers. Für ihn widerspiegelt sich die gottgewollte Ordnung in der gesellschaftlichen Ordnung im Diesseits. Dabei zeichnet der Chronist die ausserordentlichen und einmaligen Ereignisse auf, die alle den Weg aufzeigen, der von einer heilen Welt zum Verderben führt. Dem Dreissigjährigen Krieg gibt er eine apokalyptische Dimension; er ist Strafe Gottes und Kampf des Guten gegen das Böse in einem. Die Chronik zeigt vor allem deutlich, dass auch in bäuerlichen Kreisen, weit weg von den europäischen Kriegsschauplätzen und den städtischen Zentren des Informationsaustausches, die grossen europäischen und eidgenössischen Ereignisse bekannt waren und mitverfolgt wurden. Die Nachrichten sickerten auf mündlichem Weg – vielleicht über Pfarrherren, Flüchtlinge, Söldner – und sicher auch über Flugblätter bis ins hinterste Tal durch.

Zweifellos war der Bauernkrieg das Schlüsselerlebnis im Leben Jodocus Josts. Aus dem Gesamtzusammenhang ergibt sich auch, dass seine Haltung gegenüber den bäuerlichen Forderungen und den Ereignissen des Jahres 1653 nicht so undifferenziert war, wie die Geschichtsschreibung bisher angenommen hat. Die bäuerlichen Forderungen lehnt er nicht grundsätzlich ab, den Bundesschwur der Bauern hingegen kann er nicht gutheissen. Die durch die Eide bekräftigte Ordnung zwischen Obrigkeit und Untertanen wird durch den Bundesschwur infrage gestellt; dieser wird zur frevlerischen Tat. Eine differenzierte Lektüre zeigt den Chronisten hin- und hergerissen zwischen Verständnis für die bäuerlichen Anliegen und seinem unbedingten Glauben an eine von Gott gewollten Gesellschaftsordnung, gegen die in seinen Augen nicht nur die Bauern, sondern auch die bernische Obrigkeit verstiessen.

Der Bauernkrieg ist wohl auch Beweggrund und Auslöser, dass sich Jost an das Werk einer Chronik machte. Er wollte Rechenschaft ablegen, wie es kam, dass die Welt aus den Fugen geraten war.

Der Schluss der Chronik erzählt fast tagebuchartig den Villmergerkrieg, wobei es Jost tunlichst vermeidet, von einem konfessionellen Konflikt zu sprechen. Das Unheil nimmt seinen unerbittlichen Lauf.

Mit den Methoden der Mentalitätsgeschichte ist es Danièle Tosato-Rigo gelungen, die Bedeutung der Chronik in ihrer ganzen Vielfalt herauszuarbeiten. Es handelt sich nicht um ein zufällig überliefertes Kuriosum der bernischen Historiographie, sondern um eine wohl durchdachte Standortbestimmung eines Zeitgenossen, der den Weltenlauf an seinen moralischen, religiösen und gesellschaftlichen Grundüberzeugungen misst. Hier finden denn auch die zahlreichen «faits-divers» – Naturerscheinungen, Unglücksfälle und Verbrechen – ihren Platz, nicht als Anekdoten, sondern als Teil einer grösseren Erzählung, die von Pessimismus und verletztem Stolz zeugt.

Zitierweise:
François de Capitani: Rezension zu: Tosato-Rigo, Danièle: La chronique de Jodocus Jost. Miroir du monde d’un paysan bernois du XVIIe siècle. Lausanne: SHSR 2009 (Mémoires et documents publiés par La Société d’histoire de la Suisse romande, 4ème Série, vol. X). Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 1, 2012, S. 77-78.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 1, 2012, S. 77-78.

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